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Jena versendet offenen Brief zu Corona-Wirtschaftshilfen

Plenarsaal des Historischen Rathauses Jena mit Bestuhlung  ©JenaKultur,  C. Häcker
Oberbürgermeister Dr. Thomas Nitzsche am Rednerpult  ©Stadt Jena, Stephan Preissler

Insolvenzen müssen verhindert werden – Landesregierung muss sich um Anpassung bemühen

In einem offenen Brief hat sich die Stadt Jena an das Land Thüringen gewandt, um auf Missstände bei der Unterstützung der von Schließungen und Einschränkungen betroffenen Veranstaltungs- und Kulturbranche hinzuweisen und Lösungen zu fordern.
Oberbürgermeister Thomas Nitzsche: "Das Pandemiemanagement der Landesregierung muss neben den epidemiologischen Folgen in einem wesentlich höheren Maß auch die wirtschaftlichen und sozial-infrastrukturellen Folgen der Pandemie im Blick haben und Lösungsstrategien entwickeln."
 

Der offene Brief im Wortlaut:
 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Ministerin,
sehr geehrte Herren Minister,
 
 
die Pandemie geht jetzt in das mittlerweile dritte Jahr und wir stehen trotz Impfmöglichkeiten wieder an demselben Punkt wie Anfang 2021. Aus kommunaler Sicht beobachten wir neben der epidemiologischen Krise vor allem eine weiter zunehmende wirtschaftliche Krise unserer lokalen und regionalen Unternehmen in Gastronomie, Hotellerie, Einzelhandel und Veranstaltungswirtschaft.
Diese Branchen sind seit Beginn der Pandemie am härtesten von notwendigen Kontaktbeschränkungen betroffen, weil der Kern ihrer Geschäftsgrundlagen von dem Zusammenkommen von Menschen abhängt, was aber in einer Pandemie eben nicht das Ziel sein kann.
Die staatlichen Wirtschaftshilfen haben in den Jahren 2020 und 2021 dafür gesorgt, dass eine Insolvenzwelle bisher vermieden werden konnte und viele der Unternehmen im Frühsommer 2021 noch ausreichend Kraft und Motivation behalten hatten, um einen Neustart zu schaffen. Von zentraler Bedeutung waren dabei die November- und Dezemberhilfen 2020 sowie die verschiedenen Auflagen der Überbrückungshilfen und das Kurzarbeitergeld.
Mit dem Anstieg der derzeitigen vierten Welle hat diese Sommererholung einen massiven Rückschlag erhalten. Der Ausblick in Richtung 2022 ist angesichts einer weiterhin zu geringen Impfdynamik und der noch unklaren Bewertbarkeit von Omikron nur mit wenig Optimismus zu versehen. Der wesentliche Unterschied zwischen der Phase des Lockdowns 2020/2021 und der derzeitigen Situation ist, dass bis auf wenige angeordnete Schließungen ein Großteil der Betriebe beauflagt mit 2G oder 2Gplus geöffnet bleibt. Diese grundsätzlich positiv gedachte Öffnungsvorgabe wird für viele Unternehmen zunehmend zu einer wirtschaftlichen Bedrohung. Warum?

 

  • Viele Menschen in Thüringen folgen verantwortungsvoll dem Weg der Kontaktreduzierung und nehmen derzeit Angebote in Gastronomie und Veranstaltungsbetrieben nicht wahr. Das Tagesgeschäft in der Gastronomie ist um weit mehr als 50 Prozent eingebrochen.
  • Unternehmen haben ihre Pandemieschutzmaßnahmen wieder verstärkt. Aus diesem Grund sind nahezu alle Betriebsweihnachtsfeiern in Thüringen abgesagt worden. Die Gastronomie und Catering-Firmen verzeichnen Umsatzeinbußen in Höhe von 70 bis 90 Prozent.
  • Die Hotellerie kämpft nach einem Sommer und Herbst der Erholung wieder mit einer massiven Stornierungswelle und nicht im Ansatz zu verzeichnenden Nachfragen für die Weihnachtszeit oder den Jahreswechsel. Dies betrifft vor allem die Beherbergungsbetriebe in den Städten mit dem Ausbleiben des Geschäftstourismus infolge von Dienstreiseeinschränkungen sowie der Absage von Messen, Kongressen und Tagungen. Diese Entwicklung ist bereits jetzt bis weit in das Jahr 2022 hinein feststellbar. Leider müssen wir eben auch konstatieren, dass der Geschäftstourismus im Gegensatz zum Privattourismus gerade nicht in den Sommermonaten angezogen hat. Im Bereich des privaten Freizeittourismus wird unter den gegenwärtigen Bedingungen für die Weihnachtsferienzeit zwar ein möglicher Nachfrageanstieg festzustellen sein, der aber zu kurz und umsatzseitig zu schwach sein wird, um die Betriebe außerhalb der Wintersportgebiete in den traditionelle schwachen Folgemonaten Januar, Februar und März zu stabilisieren.
  • Veranstaltungshäuser haben in den letzten Wochen ebenfalls eine massive Stornierungswelle erlebt. Agenturen müssen Produktionen verschieben oder absagen, weil diese mit den vorgegebenen Kapazitätsreduzierungen nicht rentabel produzierbar sind bzw. bereits verkaufte Ticketkontingente über den derzeit geltenden Kapazitätslimits liegen. B2B-Veranstaltungen sind ebenfalls komplett abgesagt. Die Durchführung von Veranstaltungen in hochsubventionierten Theater- und Orchesterbetrieben ist lobenswert, aber es verdeckt die Realität im Großteil der privatwirtschaftlich geführten oder gebuchten Thüringer Veranstaltungsbetriebe.
  • Der stationäre Einzelhandel verliert mit den Zugangsbeschränkungen in diesem Winter weiter im Wettbewerb mit dem Online-Handel. Die trifft den inhabergeführten Facheinzelhandel gleichermaßen wie Filialgeschäfte mit nicht privilegiertem Sortiment. Infolge des notwendigen Verbotes der Weihnachtsmärkte sind auch die Besucherfrequenzen der Innenstädte massiv zurückgegangen. Gleiches gilt für die Nichtdurchführbarkeit der Verkaufsoffenen Sonntage.
  • Alle Branchen kämpfen mit einer anhaltenden Personalflucht, die durch die anhaltende Beschäftigungsunsicherheit nochmals verstärkt wird. Die Auswirkungen dieser Personalflucht sind vor allem in Produktqualität und der prinzipiellen Betriebsfähigkeit zu spüren und werden der limitierende Faktor im Falle einer wirtschaftlichen Erholung sein.


In Summe stellt sich für die Unternehmen und Kommunen in Thüringen eine dramatische Situation dar, welche durch die fehlende Möglichkeit zur Selbstschließung weiter verstärkt wird. Eine Selbstschließung hilft einem Unternehmen in normalen Zeiten umsatzschwache Periode zu bewältigen - aus eigener Kraft und mit dem Rückgriff auf die erwirtschafteten Rücklagen der umsatzstarken Perioden. Die Eigenkapitaldecke ist nach fast zwei Jahren Pandemie jedoch mittlerweile bei vielen Unternehmen zu schwach, um diese Zeit der pandemiebedingten Umsatzrückgänge über einen Zeitraum von mehreren Monaten ohne staatliche Unterstützung und nur aus eigener Kraft bewältigen zu können.
Gleichzeitig steht Unternehmen, die ihren Betrieb aus Gründen der pandemiebedingten Unrentabilität zumindest vorübergehend einstellen, derzeit kein Zugang zu dem wichtigen Instrument der Überbrückungshilfen zur Verfügung. Möglichkeit zur geregelten Selbstschließung als Zugang zu den Überbrückungshilfen ist derzeit von Bundesseite nicht vorgesehen.
Die gegenwärtige Strategie der Landesregierung, mit massiven Kapazitätsreduzierungen und Zugangsbeschränkungen Einrichtungen de-jure offen zu halten, faktisch damit aber einen wirtschaftlichen Betrieb auszuschließen, hilft niemand in den besonders betroffenen Branchen. Mehr noch, diese Strategie führt aufgrund der epidemiologischen Folgen für Thüringen dazu, das der für die Unternehmen nicht mehr zu stemmende wirtschaftlichen Rahmenbedingen sich unabsehbar weiter verlängern.
Wir befürchten deshalb eine weitere massive Schwächung der benannten Branchen und vor allem eine langfristige Schwächung des Dienstleistungssektors in unseren Städten und Regionen, der sich langfristig auf die Lebens- und Erlebnisqualität des Standortes Thüringen auswirken wird.
 
 
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Ministerin,
sehr geehrte Herren Minister,

Wir bitten Sie ausdrücklich, sich in Gesprächen mit dem Bundeswirtschafts- und -finanzministerium sowie den Fachausschüssen des Bundes und Landes für eine entsprechende Anpassung der Wirtschaftshilfen einzusetzen, um Unternehmen die Möglichkeit zur geregelten und unterstützten Selbstschließung zu ermöglichen. Dieser Weg würde besonders stark betroffenen Unternehmen eine weitere Perspektive ermöglichen und gleichzeitig den noch rentierlich produzierenden Unternehmen die Möglichkeit der Öffnung erhalten. Darüber hinaus muss Thüringen als von der vierten Welle besonders betroffenes Bundesland gegebenenfalls mit eigenen Programmen die Branchen stützen, deren Existenz ansonsten akut gefährdet ist. Auch müssen diejenigen Unternehmen und Kultureinrichtungen, die freiwillig und häufig auch aus wirtschaftlichen Gründen durch Absagen von Veranstaltungen und Schließungen von Einrichtungen zu einer weiteren Kontaktreduzierung und damit zu einer Stabilisierung der pandemischen Lage beitragen, auch wirtschaftliche Hilfen zur Verfügung stehen. 
Das Pandemiemanagement der Landesregierung muss neben den epidemiologischen Folgen in einem wesentlich höheren Maß auch die wirtschaftlichen und sozial-infrastrukturellen Folgen der Pandemie im Blick haben und Lösungsstrategien entwickeln.
Ansonsten wird der Standort Thüringen in seiner Vielfältigkeit weiter und dauerhaft an Qualität verlieren.
Wir, und sicherlich auch viele andere unserer Kolleg:innen, stehen Ihnen für die Bewältigung dieses Prozesses gern zur Verfügung.
 
Mit freundlichen Grüßen
 
Dr. Thomas Nitzsche  Christian Gerlitz
 Oberbürgermeister     Bürgermeister

 

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